Verhaltensstudie anhand einer gemeinschaftlichen Schneeschaufel

Wir leben in einem Mehrfamilienhaus. Zum Verkomplizieren der Lage sei erklärt, dass wir eine WEG (Wohnungseigentümergemeinschaft) bilden, also alle Wohnungseigentümer sind. Wir haben keine externe Hausverwaltung und keinen Hausmeister, das heisst: wir verwalten uns selbst. Das inkludiert Putzen im wöchentlichen Turnus, Aufgabenverteilung und selber Hand anlegen wenn etwas fehlt. Wir sind rund 12 Parteien und bei dieser Grösse bilden sich keine Hierarchien, weil es einfach keine Glorie zu holen gibt, es bleibt nur Arbeit und der Zwang Entscheidungen zu treffen.

Anfangs haben wir nötige Utensilien beschafft, das umfasste zum Beispiel einen Rasenmäher und eine Schneeschaufel. Der Rasenmäher ist schon jahrelang kaputt und für das kleine Eck Garten ist das kein Verlust. Aber hier in Tirol schneit es ab und zu und dann muss man die Schneeschaufel ernsthaft einsetzten. Auch an dieser nagt der Zahn der Zeit, die Ecken runden ab, die Schaufel bekommt Risse, sprich: sie müsste ersetzt werden. Das kostet nicht die Welt, es zahlt ohnehin die Gemeinschaft. Aber:

  1. irgendwer
  2. muss
  3. sich
  4. demnächst
  5. dazu entscheiden
  6. und aktiv in ein Geschäft gehen/fahren und die alte Schaufel entsorgen.

Die grösste Hürde ist Punkt 1 in Relation mit Punkt 3 in der hierarchielosen Gemeinschaft. Irgendwer könnte (sollte) ja der andere sein. Selbst in einem Einfamilienhaus wird das schlagend (irgendwer hat Küchendienst) und wenn man ganz alleine lebt, vertagt man allzu gerne oder hofft auf eine schnelle Schneeschmelze oder auf ein sonstiges Wunder.

Die Punkte 2 und 4 sind das zeitliche Dilemma, welches den Interpretationsspielraum erst wirklich zulässt. Bei der Schaufel geht es nicht um die defekte Zentralheizung. Die alte Schaufel tut es noch zur Not und selbst ohne Schaufel kommt man dank Besen eventuell noch durch.

Punkt 5 macht es erst recht schwammig, man muss sich selber aus einer Gruppe heraus für eine Arbeit entscheiden. In einer grösseren Gesellschaft, kann man dafür eventuell wenigstens Lob ernten, in einer so kleinen Gruppe läuft man eher Gefahr in die Rolle desjenigen zu schlüpfen, der sich letztendlich um alles kümmert. Die anderen lehnen sich dann noch mehr zurück und die Schieflage in der Arbeitsteilung nimmt zu. Zuletzt bilden sich selbst in kleinen Gruppen Hierarchien, die gesamtheitlich betrachtet nicht immer zu den besten Resultaten führen.

Kombiniert man die vorangehenden Punkte, kann man sich auch vor der Entscheidung mit der Furcht drücken, dass zeitgleich jemand anderer die Schaufel besorgt. Rein statistisch ist das aber unwahrscheinlich, auch wenn wir aus unerklärlichen Gründen zwei schwere Eiskratzer haben und sich sicher nie zwei Personen gleichzeitig mit dieser Arbeit abquälen.

Mit der Entscheidung ist es aber noch nicht getan, man muss es noch aktiv angehen, hier sogar in einem mehrteiligen Verfahren. Es geht nicht darum die Waschküche zu putzen, man muss in sich ein passendes Geschäft (Entscheidung: welches) begeben (Aufwand) und dort eine passende Schaufel auswählen (noch eine Entscheidung). Mit der alten Schneeschaufel muss man zum Müllplatz fahren und die Rechnung muss verbucht werden.

Die Gruppe der potentiellen Leute, die aktiv werden könnten, verringert sich zusätzlich drastisch durch den Umstand, dass einige nie eine Schneeschaufel in die Hand genommen haben weil andere für sie im Turnus eingesprungen sind (sei es entnervt, aus Gutmütigkeit oder untereinander abgemacht). In solch einem Fall wird man sich nicht für eine Neuanschaffung eines Geräts einsetzen, welches man anschliessend nicht verwendet.

Es ist nicht mehr als der tägliche Einkauf, aber man macht es nicht für sich sondern für seine Gemeinschaft.

Die Sozialstudie am Objekt Schneeschaufel hört hier nicht auf. Denn innerhalb der gelähmten Gruppe gibt es auch Privilegierte, die eine private Schneeschaufel besitzen und diese nach getaner turnusmässigen Arbeit wieder wegsperren. Das, obwohl sie die Schaufel sogar der Gemeinschaft verrechnen könnten.

Das Thema taugt als Beispiel, weil man:

  • die Schaufel gegen jedes beliebige Objekt/Thema austauschen kann, Man denke an Besen, Kanalsystem, Landesverteidigung oder Klimawandel.
  • die Gruppengrösse beliebig variieren kann: von 1 Person bis 8 Milliarden. Man denke an Vereine, Bundesregierung, EU oder UNO.

Photos: Alex Medwedeff

Die betroffene alte Schneeschaufel

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